Studio Dan

Bären im Gemeindebau, Jazz unter der Brücke

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Falter.at, Klaus Nüchtern, 2023-09-25

Dass alles, was Konventionen und Grenzen ignoriert, sprengt und überschreitet, als „progressiv" zu gelten hat, ist ein liebgewonnenes Klischee, das wir nicht zuletzt der Avantgarde zu Beginn des vorigen Jahrhunderts verdanken. Der anti-bürgerliche Affekt, dem sich diese Auffassung verdankt, befeuert freilich einen Furor der Überschreitung, der alles, was ihm entgegensteht, als „spießig" und „reaktionär" denunziert und im Entsorgen von „Zivilisationsschutt" nicht zimperlich ist. Das lappt dann schon auch mal ins Totalitäre, und dass Künstler – ja, es waren zum überwiegenden Teil Männer – mit dem Faschismus oder dem Stalinismus liebäugelten, wie es die Futuristen und Surrealisten getan haben, steht nicht auf einem anderen Blatt, sondern ist die Kehrseite der Medaille (man verzeihe den kleinen metaphorischen Exzess).

„Geschiedenes ist gut" lautet ein vermutlich erfundenes Zitat, von dem ich vergessen habe, wem es zugeschrieben wird – Hegel? Hölderlin? –, das aber jedenfalls auf die Notwendigkeit verweist, zu diskriminieren, also Unterschiede zu setzen und zu akzeptieren. Das Kraus-Zitat, demzufolge zwischen einem Nachttopf und einer Urne ein Unterschied bestehe und in diesem „erst die Kultur Spielraum hat", dürfte authentisch sein.

Ich selber lehne ein konventionelles Kunstverständnis keineswegs rundheraus ab und finde es okay, dass zwischen Künstlern und Publikum ein Unterschied gemacht wird, der sich auch räumlich manifestiert: Hier ist der Saal, dort ist die Bühne, und das darf ruhig so bleiben. Ich hasse Mitmachtheater. Kunst ist das, was im Museum hängt, und dort trägt man auch keine Fußballschuhe und hat mehr an als in der Sauna. Kunst im öffentlichen Raum? Soll sein. Ich habe nichts gegen Bären im Gemeindebau, aber sobald interveniert wird, bin ich skeptisch. Der grotesk-bombastische Lattenzaun vor dem Lueger-Denkmal hat vor allem den Zweck, die kritische Kontextualisierungspotenz der Künstler:innen in Szene zu setzen und ist nichts weiter als eitler, selbstergriffener Unfug.

Etwas anders verhält es sich mit Musik im öffentlichen Raum. Wobei ich jetzt natürlich nicht den Trauermarsch am Friedhof oder das gute alte Platzkonzert meine, sondern tatsächlich künstlerisch-akustische Intervention, Musik also, die an Orten stattfindet, wo sie eigentlich nicht hingehört. „Seltsame Musik an seltsamen Orten" – unter diesem Motto fand im Vorjahr das Festival „ZONK!?!!" des Künstler:innenkollektivs Studio Dan statt, das den öffentlichen Raum der Brigittenau buchstäblich bespielte; und bereits 2020 hatte das von Mastermind Daniel Riegler organisierte Ensemble eine Reihe von „Kurkonzerten" im Franz-Novy-Hof in Ottakring gegeben, einem Ort übrigens, der nicht zuletzt durch ein monumentales Mosaik des Künstlers Otto Rudolf Schatz hervorsticht.

Ich habe dort einer Aufführung von Terry Rileys „In C" beigewohnt, einem Klassiker der Minimal Music. Die Reaktionen der Menschen waren erstaunlich. Während die Kiddies das Geschehen aufgekratzt und mit unverstelltem Interesse verfolgten, fühlte sich so manch Wiener Grantler provoziert: „Des is fia wüde Hoibindiana!" echauffierte sich einer von ihnen. Apropos Kinder. Die sind natürlich immer ein Bringer. Ich werde noch auf sie zurückkommen.

Vor ein paar Tagen habe ich mir das Stück „Passagieren" des Komponisten und Pianisten Michael Tiefenbacher angehört und zwar zweimal: einmal unter der Reichs-, das andere Mal unter der Salztorbrücke. Die etwa eine dreiviertel Stunde lange Komposition für Oktett bringt Jazz, Freie Improvisation und Minimal Music zusammen und wird von vier Tänzer:innen (Choreografie: Anna Knapp) begleitet. Und schließlich wird die ganze Performance, die Joseph Beuys’ Konzept der Sozialen Plastik verpflichtet ist, auch noch entscheidend vom jeweiligen Aufführungsort determiniert. Auf den Punkt gebracht: Am Donaukanal haben es die Mitwirkenden entschieden schwieriger als an der Donau.

Unter der Salztorbrücke ist nicht nur weniger Platz, der Ort ist viel stärker verkehrsbestimmt, von Passanten, Joggern, vor allem aber Radfahrern, von denen manche mit einem Affenzahn unterwegs und wenig geneigt sind, auf andere Menschen Rücksicht zu nehmen, beziehungsweise ihr Fahrverhalten den jeweiligen Bedingungen anzupassen: „Achtung!!" rief eine junge Frau, sichtlich genervt ob des Umstandes, dass da auf einmal ein paar Dutzend Menschen blöd herumstanden und ihren Fahrweg blockierten. Andere verminderten zumindest ihr Tempo, wenige blieben sogar stehen und stiegen ab, um zu hören und zu sehen, was hier vor sich ging.

Und jetzt zu den Kindern, weil: natürlich immer das beste Publikum. Es ist eine Freude zu beobachten, wie unmittelbar sich die pulsierende, groovende und stellenweise auch ekstatische Musik auf sie überträgt, wie sie zu wippen und tanzen beginnen oder wie das kleine behelmte Mädchen auf ihrem Kinderfahrrad unter der Reichsbrücke scheinbar unbeeindruckt ihre Kreise drehen. Irgendwann begann ich mich zu fragen, ob sie oder der leicht verstohlen und selbstironisch mittanzende Bub Teil der Performance sind. Als das Mädchen am Ende des in einem weiträumigen Decrescendo ausklingenden Stückes dann auf den Scooter umstieg und zu den letzten Tönen „aus dem Bild" rollerte, war ich mir nachgerade sicher, dass es sich um einen „Regieeinfall" handelte. Meine Recherche beim Ensemble-Leiter Daniel Riegler ergab: Ich war falsch gelegen.