Studio Dan

Walking through a brave new world

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von Axel Seidelmann

Walking through a Brave New World

8 Improvisations for Ensemble (2008-14)

Gibt es politische Musik? Sie kann natürlich politische Botschaft vermitteln in der Verbindung mit Sprache und Bild. Sie kann aber auch selbst politisch werden durch Zitate bzw. Anspielungen auf musikalisch-akustische Symbole, Klischees und Moden einer Gesellschaft oder eines Systems.

Das beginnende 21. Jahrhundert: Großmächte überfallen andere Länder unter falschen oder irrationalen Vorwänden oder drohen mit Eroberungskriegen, Terroranschläge schockieren die Welt und es wird munter aufgerüstet...- die Ressourcen werden schließlich knapp!
Begleitet wird dies von Entwicklungen, die unsere Welt inzwischen grundlegend verändert haben und weiter verändern werden. Vieles spielt autokratischen Tendenzen in die Hände und der Beruf des Diktators scheint wieder schick zu werden...

„Mit fast tödlicher Sicherheit bewegen wir uns auf ein Zeitalter totalitärer Diktaturen zu.“ (George Orwell)

Der Zyklus Walking through a Brave New World nimmt eine Sonderstellung in meinem Schaffen ein, in stilistischer wie inhaltlicher Hinsicht:
Zunächst durch die gesellschaftspolitische Thematik und die daraus resultierende Einbeziehung von Jazz, Rock Pop, World Music, von Kitsch, Kommerz, Geräusch und Lärm als akustisch-musikalisches Abbild unserer gegenwärtigen Welt, ferner durch Sprache und Bewegung bzw. Pantomime, und nicht zuletzt durch die Einladung zur Improvisation.

Ein ironischer Blick auf unsere globalisierte Konsumgesellschaft und deren nähere und fernere Zukunft. Anspielungen an Aldous Huxley („Brave New World“), François Truffaut („Fahrenheit 451“), Frank Zappa („Plastic People“) und Bobby McFerrin („Be Happy“) sind bewusst gewählt, Assoziationen sind durchaus beabsichtigt!
Der Titel verweist auf Huxleys utopischen Roman „Brave New World“. Huxley schildert darin eine Gesellschaft, die durch permanente Befriedigung durch Konsum, Sex und Drogen kein Bedürfnis mehr hat, kritische Fragen zu stellen. George Orwell beschreibt in „1984“ drei konkurrierende Weltmächte, die abwechselnd gegeneinander Krieg führen - Gehirnwäsche und Totalüberwachung sichern ihnen die Macht.
Huxleys und Orwells Utopien sind bekanntlich in vielen Bereichen längst erreicht bzw. überholt. An das Meiste haben wir uns hierzulande inzwischen gewöhnt. Globaler Konsumrausch und Wirtschaftsboom lassen wegschauen, vergessen. Damit wir stillhalten. Happiness und Mega-Events landauf, landab! Dauer-Party zwischen Kriegen und Hunger in der Welt rundherum. Wie lange noch?

„Der Kapitalismus dient essentiell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die so genannten Religionen Antwort gaben und ist vermutlich der erste Fall eines nicht entsühnenden, sondern verschuldenden Kultus.“ (Walter Benjamin)

Täglich werden irgendwo Weichen gestellt, Schalthebel umgelegt, Machtansprüche gestellt und Marschrichtungen vorgegeben, Möchtegern-Führer bringen sich in Position. Es geschieht ohne uns, aber auch mit uns!

„Die Geschichte lehrt die Menschen, dass die Geschichte die Menschen nichts lehrt!“ (Mahatma Gandhi)

Plutonium City
Alltag in der Reaktorstadt: Kernspaltung und Kernfusion, Entladung gigantischer, ja weltvernichtender Energien, unsichtbar, nur mit Müh und Not beherrscht, während nebenan Kinder in den Kindergarten oder zur Schule gehen, die Eltern arglos in Büros sitzen, abends fernsehen...
Chaos und technische Polyphonie. Verstrahlte Reste von Musik, von Maschinen vorgetragen, zenrfallen und verlieren sich, verstimmt, fremd geworden. Ein Orgelsolo - ironische Verklärung und ein bisschen Traurigkeit.

Lonely Hacker on a Data Highway
Daten jagen in Echtzeit um die Welt, wer weiß, wo überall hin! Digitales Fernweh in der Einsamkeit vor dem Bildschirm, Abenteuer, ohne den Sessel verlassen zu müssen...
Ein sentimental-melancholisches Road Movie über Digital-Tramper, eine leicht irritierte

Plastic People
Maschinenmusik? Stereotype Gesten und exaltierte Soli, zwischen Hardrock und quietschendem Plastik. Synthetisch. Plastic- ock.
Klone, Computerstimmen, Avatare und Roboter. Fake News als politische Teilhabe, „Reality“-Shows, virtuelle Kriege und Actionthriller als Unterhaltung. Alles authentisch künstlich! Je lauter und schriller es wird: Leben! Vitalität!

Die denen Mächtigen tagtäglich den Scherb’n ausleeren und ihn hernach recht häufig aufhaben...
Schleichend in fahlem Dämmer, Schleimspuren, ein heimliches Knabbern, Schaben und Sägen, ein Davonhuschen, wenn plötzlich die Decke gelüftet wird... Ein Schrei: Zertretene!
Ein Stück für Systemunterstützer und Mitläufer, für Opportunisten, die sich's offen oder im Hintergrung richten.

Fahrenheit 451 – oder -273,15 Grad Celsius?
Bei der Temperatur von 451 °F gehen Bücher in Flammen auf, -273,15 °C wiederum bedeuten den absoluten Nullpunkt und das Ende unseres Universums. Der Feuersturm totalitärer Systeme – vor der Eiseskälte des Nichts? Das Ensemble im Vollbrand, scheinbar unlöschbar. Sein Ende in Leere, Kälte, Finsternis.

Keine Angst, Sie werden beobachtet! (Hörspiel)
Schutz vor Kriminalität und Terror! Videokameras, Digitalcodes, Chips: ständige Ortbarkeit, Aufzeichnung von Verhalten, Offenlegung von Kommunikation und Gedanken, Speicherung der Daten…
Zur Sicherheit staatlicher Sicherheitsmaßnahmen.

Megapolis Tower bei Sonnenaufgang
Amerikanischer Kommerz trifft asiatischen Fleiß: Wirtschafts-Boom! Sonst noch was? Spiegelnde Wolkenkratzer, stylishe Shopping Malls, versprochenes Glück! Hymne von Glas und Stahl, von Kunststoff und Beton. Glänzend im Morgenlicht steigt der Turm von Babel auf zum Himmel, umschmeichelt von "chinesischen" Streichern, bejubelt von "amerikanischen" Blechbläsern und manch anderem…

Be happy! („Tanz der Hampelmänner“)
Zwischen „Jingle Bells“, „Happy Birthday“ und Nationalhymne kann man sich noch glücklich fühlen, Kriege werden woanders geführt – oder? Keine mühsamen Wegsuche mehr! Die Trillerpfeife gibt vor! Die ausführenden bewegen sich dazu wie Marionetten und Hampelmänner. Zuletzt sacken sie in sich zusammen, Ihrem Schicksal überlassen. Fallen da Bomben…? Atombomben?